„Als es hell wurde, da machte ich Herdfeuer in der Küche, putzte die blakende Lampe und schlich mich in den Wald. Da hingen noch dicke Morgennebel in den Bäumen, und ein geflecktes Reh glitt lautlos durch die Föhren weiter. Ich zog Schuh und Strümpfe aus und wurde sehr froh“
Lou Andreas-Salomé
Nur eine Stunde im grünen Wald
Nur eine Stunde von Menschen fern,
Nur eine einzige Stunde!
Statt der tönenden Worte des Waldes Schweigen,
Statt des wirbelnden Tanzes der Elfen Reigen,
Statt der leuchtenden Kerzen den Abendstern,
Nur eine Stunde von Menschen fern!
Nur eine Stunde im grünen Wald,
Nur eine einzige Stunde!
Auf dem schwellenden Rasen umhaucht von Düften,
Gekühlt von den reinen balsamischen Lüften,
Wo von ferne leise das Echo schallt,
Nur eine Stunde im grünen Wald!
Nur eine Stunde im grünen Wald,
Nur eine einzige Stunde!
Wo die Halme und Blumen sich flüsternd neigen,
Wo die Vögel sich wiegen auf schwankenden Zweigen,
Wo die Quelle rauscht aus dem Felsenspalt,
Nur eine Stunde im grünen Wald!
Auguste Kurs
(1815 – 1892), deutsche Dichterin
Mein Wald, mein Leben
Ich sah den Wald im Sonnenglanz,
Vom Abendrot beleuchtet,
Belebt von düstrer Nebel Tanz,
Vom Morgentau befeuchtet:
Stets blieb er ernst, stets blieb er schön,
Und stets mußt‘ ich ihn lieben.
Die Freud‘ an ihm bleibt mir besteh’n,
Die andern all zerstieben.
Ich sah den Wald im Sturmgebraus,
Vom Winter tief umnachtet,
Die Tannen sein in wirrem Graus,
Vom Nord dahingeschlachtet;
Und lieben mußt‘ ich ihn noch mehr,
Ihn meiden könnt‘ ich nimmer.
Schön ist er, düsterschön und hehr,
Und Heimat bleibt er immer.
Ich sah mit hellen Augen ihn,
Und auch mit tränenvollen;
Bald sänftigt‘ er mein Grollen.
In Sommersglut, in Winterfrost, –
Konnt‘ er mir mehr nicht geben, –
So gab er meinem Herzen Trost;
Und drum: Mein Wald, mein Leben!
Emerenz Meier
(1874 – 1928), deutsche Dichterin und Erzählerin
Blühende Bäume
Was singt in mir zu dieser Stund
Und öffnet singend mir den Mund,
Wo alle Äste schweigen
Und sich zur Erde neigen?
Was drängt aus Herzensgrunde
Wie Hörnerschall zutag
Zu dieser stillen Stunde,
Wo alles träumen mag
Und träumend schweigen mag?
An Ästen, die sich neigen,
Und braun und dunkel schweigen,
Springt auf die weiße Blütenpracht
Und lacht und leuchtet durch die Nacht
Und bricht der Bäume Schweigen,
Daß sie sich rauschend neigen
Und rauschend ihre Blütenpracht
Dem dunklen Grase zeigen!
So dringt zu dieser stillen Stund
Aus dunklem, tiefem Erdengrund
Ein Leuchten und ein Leben
Und öffnet singend mir den Mund
Und macht die Bäum erbeben,
Daß sie in lichter Blütenpracht
Sich rauschend wiegen in der Nacht!
Hugo von Hofmannsthal
(1874 – 1929), österr. Lyriker, Dramatiker, Erzähler
Ziehende Landschaft
Man muß weggehen können
und doch sein wie ein Baum:
als bliebe die Wurzel im Boden,
als zöge die Landschaft und wir ständen fest. Man muß den Atem anhalten,
bis der Wind nachläßt
und die fremde Luft um uns zu kreisen beginnt, bis das Spiel von Licht und Schatten,
von Grün und Blau,
die alten Muster zeigt
und wir zuhause sind,
wo es auch sei,
und niedersitzen können und uns anlehnen, als sei es an das Grab
unserer Mutter.
Hilde Domin
Am Ende die Rechnung
Einmal wird uns gewiss
die Rechnung präsentiert
für den Sonnenschein
und das Rauschen der Blätter, die sanften Maiglöckchen
und die dunklen Tannen,
für den Schnee und den Wind, den Vogelflug und das Gras und die Schmetterlinge,
für die Luft, die wir
geatmet haben, und den Blick auf die Sterne
und für alle die Tage,
die Abende und die Nächte.
Einmal wird es Zeit,
dass wir aufbrechen und bezahlen;
bitte die Rechnung.
Doch wir haben sie
ohne den Wirt gemacht: Ich habe euch eingeladen, sagt der und lacht,
so weit die Erde reicht:
Es war mir ein Vergnügen!
Lothar Zenetti